Ein zurückgezogen lebender Mann aus der Leibnizstraße.
Der Nuthebote. 9. Jahrgang, Februar.
Seite 4.
Die Rehbrücker Leibnizstraße, ehedem Kirschallee, gehörte schon immer zu den ruhigen Teilen von Bergholz-Rehbrücke. Lärm gab es hier bestenfalls durch die Hunde, die fast zu jedem der wenigen Anwesen gehörten. Einer dieser Hunde gehörte Karl Holtz, dessen Häuschen sich mitten im Wald befand. Ein mittelgroßer, schwarzbrauner Mischling mit Namen Hasso, der die wenigen Passanten angriffslustig und ungestüm verbellte und Kinder wie Erwachsene zu dem viel zitierten "großen Bogen" veranlaßte.
Der Halter des Hundes, Karl Holtz, war das komplette Gegenteil. Ein zurückhaltender, nahezu scheu wirkender Mensch, der ganz froh schien, daß ihm jener Hasso zu Zurückgezogenheit und Distanz verhalf. Warum das so war, ließ sich nicht ohne weiteres ergründen. Lag es am Beruf von Karl Holtz oder an dem Gerücht, das ihn umgab. "Der war im Knast, einige Jährchen, allerdings aus politischen Gründen."
Was das hieß, politisch, wußte niemand konkret, darüber wagte man in den 50er und 60er Jahren höchstens in der Familie zu reden. Und für uns Kinder schien die Antwort ohnedies unergründlich. Bestenfalls, daß wir am Sonntagvormittag, wenn wir uns zur Kinderstunde vor dem Radio einfanden, um den Onkel Tobias vom Rias zu hören, die Lautstärke etwas leiser stellten. Karl Holtz jedenfalls wurde durch die Knastgerüchte eher zum Phantom, ein bißchen sogar zum Mythos. Wenn er mit einem Skizzenblock, manchmal auch mit Eimer und Schaufel durch den Wald strich, beobachtete man ihn respektvoll aus der Ferne. Ein großgewachsener, schon älterer Mann mit Brille, der sich nicht umsah und bei seinen Waldspaziergängen einzig Motive zum Malen oder Pflanzen für seinen Garten suchte. Wie ein entlassener Sträfling wirkte er jedenfalls nicht, eher introvertiert. Wobei das Wort introvertiert damals noch nicht in Mode, folglich völlig unbekannt war. Und er wirkte auch nicht wie ein Aufrührer, der auf politische Konflikte aus war.
Natürlich, Karl Holtz war schwerhörig, und jemand der schwerhörig ist, hat zu seiner Umwelt zwangsläufig Distanz. Einen Konflikt gab es dennoch. Einen ganz persönlichen zwischen ihm und mir, den man wohl eher als Mißverständnis bezeichnen kann. Ich hatte in einem lichten Waldstück einen kleinen Garten angelegt, und Karl Holtz fand bei einer seiner Kurzexkursionen durch den Wald Gefallen an den Pflanzen, die ich mit Enthusiasmus eingesetzt hatte. Er grub ein paar aus und trug sie im Eimer davon. Tage später erst fand ich den Mut ihn anzusprechen. Was hieß ansprechen. Da er kein Hörgerät trug, mußte ich schon ziemlich laut werden. Aber immerhin, ein Gefühl namens Peinlichkeit zeichnete alsbald seine Gesichtszüge, und flugs bot er die Rückgabe des irrtümlich geraubten Pflanzengutes an. Ich lehnte spontan ab. Nicht nur, weil es mir jetzt selbst peinlich war, den alten Mann in Verlegenheit gebracht zu haben, sondern weil mein eigenes Gewissen hinsichtlich der Beschaffung jener ausgegrabenen Pflanzen auch nicht ganz rein war.
Der Vorfall bekam dennoch ein Happyend. Ich fand kurz darauf einen an mich adressierten Umschlag im Briefkasten. Ein Buch des Eulenspiegelverlages befand sich darin. Berliner Geschichten. Und wiewohl das Buch von Karl Schrader und nicht von Karl Holtz illustriert war, hatte es letzterer mit den Worten signiert ...zwecks Gutmachung des, wenn auch unabsichtlich, angetanen Herzeleides - verehrt von Karl Holtz.
Tatsächlich habe ich, obwohl erst zwölf Jahre alt, das Buch mit großem Vergnügen gelesen und fortan eine noch bis heute anhaltende Zuneigung zur satirischen Literatur entwickelt. Karl Holtz jedoch, wenn ich ihm gelegentlich im Wald begegnete, grüßte ich immer mit einem Lächeln, das auch erwidert wurde.
Alexander Richter
Slg. Nadelmann